Auf der Windschutzscheibe tanzten Schneeflocken und froren zu undurchdringlichen Gebilden. Sie fluchte. Der brandneue Saab, den Peter für sie geleast hatte, konnte sie nicht darüber hinweg trösten, dass die Fahrt auf der schneeglatten Autobahn eine Tortur war. Einsetzende Dunkelheit und Nebel verschlimmerten die Sicht und die Unfallmeldungen aus dem Verkehrsfunk trugen auch nicht gerade zur Steigerung ihrer Stimmung bei. Sie hatte sich geschworen, diese Reise unwiderruflich zum letzten Mal anzutreten. Seit fünfzehn Jahren reiste sie ihm hinterher. Sie konnten nicht miteinander, aber sie konnten auch nicht voneinander lassen.

Eine nicht zu stillende Sehnsucht trieb Laura alle paar Monate dazu, raffinierte Lügen zu erfinden und unsinnige Strapazen auf sich zu nehmen, nur um wenige Stunden in seinen gewaltigen Armen zu schlummern. Unter dem Vorwand, Wäsche für Ihren kleinen Dessous-Laden einzukaufen, traf sie ihn regelmäßig in den entlegensten Winkeln Norditaliens, passend auf seine Geschäftstermine abgestimmt. Den Laden hatte sie eigentlich nur noch seinetwegen, denn Gewinne erwirtschaftete er schon lange nicht mehr.

Je mehr sie sich ihrem Ziel näherte, desto mehr erfasste sie diese kindliche Vorfreude auf hedonistische Ausschweifungen aller Art. Ein wohliger Schauder lief über ihren Rücken. Ihr war heiß obwohl sie die Heizung fast abgestellt hatte. Als sie endlich auf den Vorplatz der Villa Cipriani in Asolo rollte, bemerkte sie, dass Jochen schon eingetroffen war. Nervös riss ich die kleine Reisetasche aus dem Kofferraum und stürmte in die Halle. Er erwartete sie lächelnd an der Bar. Sie fiel fast hin, als er sie in die Arme nahm. Fest umklammerte sie seinen starken Körper, als könnte er sie schützen vor all dem Ungemach, das ihr draußen drohte. Dabei war Jochen alles andere als eine schützende Eiche, eher glich er einer Lawine, kalt, monströs, unberechenbar und gefährlich – und doch kam nichts an das Gefühl heran, sich von dieser Urgewalt überrollen zu lassen.

Er sagte: „Komm lass uns deinen Koffer ins Zimmer bringen und eine Kleinigkeit essen.“

Seine Bemerkung löste ein leises Schmunzeln bei ihr aus. Beim Essen hatte er sich noch nie auf eine Kleinigkeit beschränkt. Jochens zweitliebste Beschäftigung war die Völlerei. Kaum hatten sie die Suite betreten, nestelte Jochen bereits am Telefon um eine umfangreiche Order aufzugeben.
„Lass mich noch schnell unter die Dusche“, bat sie.

Er folgte ihr ins Bad, öffnete sanft den Reißverschluss ihres winterlichen Kleides, schob es über ihre Schultern und ließ es zu Boden gleiten. Darunter trug sie seidene Kostbarkeiten aus ihrem Sortiment. Kundig wanderten seine Hände über ihre weichen Brüste und ihre schmalen Hüften. Das zärtliche Vorspiel wurde jäh durch das Klopfen des Etagenkellners unterbrochen.

Während Jochen sich um den Ober kümmerte, ließ sie Wasser in die Wanne laufen, entledigte sich ihrer restlichen Kleidungsstücke und glitt in duftenden Schaum. Einen kurzen Augenblick später trat ihr Geliebter nackt ins Badezimmer, unter dem Arm eine Flasche Champagner und in den Händen zwei Gläser. Weil ihm das nicht reichte, kehrte er noch einmal in den Salon zurück. Als nächstes brachte er Gamberoni picante und rohes Rinderfilet. Zuletzt holte er einen kleinen Tisch aus dem Zimmer. Dann hüpfte er zu ihr in die dampfende Wanne, wobei eine gehörige Wassermenge über den Rand schwappte. Lustvoll ließ sie den zarten Schinken, den er ihr mit einem Kuss zugesteckt hatte, auf ihrer Zunge zergehen, eine knackige Garnele ereilte das gleiche Schicksal. Garniert wurde das Liebesmahl mit kleinen Streicheleinheiten.

Zarter Begierde folgte rohe Leidenschaft. Längst hatten sie ihr nasses Lager verlassen und wälzten sich in kühlen Laken. Im Augenblick größter Lust schrie sie „...liebe mich, als ob es kein Morgen gäbe, hör nicht auf, bitte! Ich liebe dich so sehr...“

Als sie zu sich kam, war das Zimmer in totale Finsternis getaucht. Sie stand auf, ging zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Mond und Sterne versteckten sich hinter einer dunstigen Wolkenwand. Jochen schlief. Sein Atem ging leise und regelmäßig.

Im Bad stolperte sie über seinen Lederbeutel, der auf den Boden gefallen war. Beim Aufsammeln der unzähligen Utensilien männlicher Eitelkeit fielen ihr verschiedene medizinische Packungen in die Hände. Sie wunderte sich, denn Jochen war für sie die fleischgewordene Verkörperung strotzender Gesundheit. Neugierig las sie die Beschreibungen auf den Schachteln. Es handelte sich um Beruhigungs- und Schlafmittel. Beunruhigt kehrte sie ins Bett zurück und kuschelte sich eng an ihn. Er bewegte sich nicht.

Am Morgen weckte er sie mit duftendem Espresso und Rühreiern mit Schinken.

„Wo hast du denn dieses opulente Gedeck aufgetrieben?“ fragte sie überrascht, denn ihr waren italienische Frühstücksgewohnheiten vertraut.

Er blieb ihr die Antwort schuldig. Stattdessen fragte er: „Willst du mich heiraten?“

Sie verschluckte sich am heißen Kaffee und musste husten: „Dich? - Niemals!“

Weil er schwieg, schob sie nach: „Peter ist der Mann, mit dem ich alt werden möchte. Du bist leider zu spät dran.“

„Und warum triffst du dich dann mit mir?“

Sie sagte nichts, ging zu ihm und legte ihre Hände auf seine Schulter. Ganz langsam nahm er sie herunter, küsste jeden Finger einzeln und zog sie zum Bett. Dabei sah er sie die ganze Zeit mit seinen dunklen Augen, die jetzt noch ein wenig dunkler geworden waren, an. Sie wich seinem Blick, der sie zu durchdringen drohte, aus. All die Jahre hatte sie sich sehnlichst gewünscht, mit Jochen für immer zusammen zu sein, jetzt aber da er es ausgesprochen hatte, verspürte sie ein seltsames Gefühl von Angst.

Den Rest des Tages sprach er nicht mehr über seinen Antrag. Stattdessen kosteten sie jede Minute aus, die ihnen vergönnt war, wie Ertrinkende, die nach Luft schnappten. Um keine Zeit zu verschenken, ließ sie sich die vorab telefonisch bestellte Ware ins Hotel liefern. Am frühen Abend des folgenden Tages musste sie abreisen. Sie saßen alleine bei einem verspäteten Mittagessen im Restaurant des Hotels. Ein samtiger Brunello streichelte ihre Kehle und ihr klammes Herz. Feuer knisterte leise im Kamin und durch die hohen Fenster drangen Sonnenstrahlen, die Jochens Gesichtszügen schmeichelten. Plötzlich fasste sie einen Entschluss. „Wir werden uns nicht wieder sehen.“

Diesen Satz hatte sie schon so oft gesagt, und daher löste er normalerweise keinerlei Beunruhigung bei ihm aus.

Dieses Mal erstarb sein Lächeln: „Du wirst doch nicht etwa diesem gutmütigen Trottel den Vorzug geben, dieser personifizierten Langeweile und bornierten Mittelmäßigkeit. Peter ist nicht die Art von Mann, die du brauchst und das weißt du!“

„Du redest nur deshalb so niederträchtig über ihn, weil er das genaue Gegenteil von dir ist.“

„Dieser armselige Trauerkloß erträgt seit Jahren geduldig und verständnisvoll deine Launen und Eigenheiten. Das ist der vermutlich der einzige Grund, warum du mit ihm zusammen bist. Vielleicht tut er dir einfach nur leid.“

Laura ahnte, dass er Recht hatte. Peters Fürsorge wurde ihr gelegentlich zuviel und zuviel war manchmal leider nicht genug.

„Ich brauche ein Zuhause, Vertrauen, Ehrlichkeit und Treue und das alles finde ich bei ihm. Du hingegen bist ein zu groß geratener, egoistischer Gefühlskrüppel, der nur in Ausnahmefällen wärmt.“ Es tat ihr weh, so zu reden.

„Meinst du nicht, dass auch ich gereift bin? Ich habe viel über uns nachgedacht.“

Jetzt lachte sie bitter: „Du wirst dich nie ändern! Du taugst lediglich zum Liebhaber, als Ehemann wärst du eine totale Fehlbesetzung. Versuche daher nicht, mich umzustimmen!“

Vor Aufregung stieß das das halbvolle Glas Rotwein um. Sie entschuldigte sich und hastete zur Toilette. Das helle Kleid war ebenso ruiniert wie ihre Willensstärke. Wütend hielt sie die fleckige Stelle des Stoffes unter fließendes Wasser.

„Hast du die Ewigkeit, die du mit der Reinigung deines Kleides zugebracht hast, dazu genutzt, dir über meine Gefühle klar zu werden? Ich werde nicht zulassen, dass du dein Leben so verschwendest !“

„Das wird dir wohl kaum gelingen“, konterte sie trotzig.

Der Wein aus dem neuen Glas schmeckte nicht mehr.

Jochens Hand lag erst lose auf ihrer und packte dann stärker zu. Sie genoss den Druck, obgleich er schmerzte, umklammerte seine Finger, als wollte sie festhalten, was sie zugunsten einer sicheren, aber faden Zukunft längst aufgegeben hatte. Diese Erkenntnis trieb ihr eine feuchte Traurigkeit in die Augen. Sie senkte den Kopf. Langsam entzog sie ihre Hand, die rot angelaufen war und seine Spuren trug und richtete sich auf. „Ich muss jetzt wirklich los.“

„Bleibst du bei einer Entscheidung?“,

er stockte, „er wird dich niemals glücklich machen.“

Etwas Düsteres - das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ - lag in seinem Blick.

„Ja und das ist mein letztes Wort“, stöhnte sie und sprang auf.

Er versuchte nicht, sie aufzuhalten. Make-up und Tränen liefen über ihre heißen Wangen, als sie zu ihrem Auto stöckelte. Es störte sie ebenso wenig, wie der eisige Wind, der ihr entgegenschlug. Die Sonne war längst dem winterlichen Grau des Spätnachmittages gewichen. Vor Aufregung bekam sie den Zündschlüssel nicht auf Anhieb in´s Schloss. Nach den ersten Kilometern musste sie anhalten, denn sie war blind vom Schluchzen. Beim Trocknen ihres Gesichtes klärten sich ihre Gedanken und sie traf eine Entscheidung. Langsam verließ sie den Parkplatz, scherte auf die Autobahn ein und steuerte die nächste Tankstelle an. Die Fahrt dorthin erschien ihr ewig, denn sie war unsäglich müde. Mit letzter Kraft suchte sie die passenden Münzen zusammen für das Telefongespräch, das sie mit Jochen zu führen gedachte. Sie war wütend darüber, dass sie vergessen hatte, den Akku ihres Handys zu laden und jetzt war sein Anschluss besetzt. Sie lehnte sich an die Wand, um nicht zu kippen. Als sie es ein weiteres Mal versuchte, war sein Anrufbeantworter eingeschaltet.

Mit schwerer Zunge hinterließ sie eine Nachricht, richtete sich auf und schwankte zu ihrem Auto. Erleichtert las sie das Schild auf der Autobahn, dass die nächste Ausfahrt in einem Kilometer ankündigte. Peter würde sie später anrufen. Jochen raste mit dem Zorn des verlassenen Liebhabers Richtung Venedig. Wenn Laura vernünftig war, steuerte sie ein Hotel an, um sich auszuruhen. Er wusste aber, dass Laura nicht vernünftig war. Wenn Jochen sie nicht haben konnte, sollte auch sein Bruder sie nicht bekommen. Nach ein paar Telefonaten mit Geschäftspartnern sah er, dass der Zeiger der Benzinuhr bedrohlich nach links gewandert war. Er steuerte die nächste Tankstelle an. Kaum saß er wieder hinter dem Lenkrad, unterbrach der Verkehrsfunk Frank Sinatras Hymne auf New York „...die Autobahn Udine – Venedig ist kurz vor der Abfahrt Treviso nach einem Verkehrsunfall gesperrt.“

Er wartete auf eine Meldung, die die entgegen gesetzte Richtung betraf, als seine Aufmerksamkeit auf das gelenkt wurde, was die dunkle Frauenstimme ihrer Durchsage hinzufügte: „...auf spiegelglatter Fahrbahn schleuderte der Wagen mit deutschem Kennzeichen, der – laut Augenzeugen - auffallend schlingerte, erst gegen die Leitplanke, dann quer über die Straße und stürzte abschließend in die Tiefe. Unzählige nachfolgende Autos rasten im dichten Nebel ineinander. Die Autobahn wird noch mehrere Stunden gesperrt sein. Ah, da kommt noch eine aktuelle Meldung; die Fahrerin des Saab, die diesen Serienunfall ausgelöst hatte, konnte nur noch tot geborgen werden. Die Polizei mutmaßt, dass sie unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stand. Wir berichten weiter.“